Eine pluralistische Bewegung wie die iranische
brauche ein gemeinsames Programm, meint der Religionsphilosoph
Abdolkarim Soroush, der schon dabei war, als der Schah gestürzt
wurde
Fünf führende Köpfe der iranischen Reform- und
Protestbewegung haben ein Manifest formuliert (siehe
Dokumentation), in dem sie unter anderem den Rücktritt von
Präsident Ahmadinedschad und das Ende der klerikalen
Kontrolle des Wahlsystems und der Kandidatenauswahl fordern.
Alle fünf Männer leben außerhalb des Iran: der Geistliche
Mohsen Kadivar, der frühere Parlamentsabgeordnete und
Minister Ayatollah Mohajerani, Journalist Akbar Ganji,
Abdolali Bazargan, Sohn eines früheren Premiers, und
Abdolkarim Soroush, Religionsphilosoph und Autor.
Das Interview mit Letzterem führte Robin Wright, ein
früherer diplomatischer Korrespondent der "Washington Post",
der drei Bücher über den Iran schrieb und nun am "Institute
for Peace" in Washington arbeitet.
Die WELT: Warum haben Sie sich jetzt zur
Veröffentlichung eines Manifests entschieden?
Abdolkarim Soroush: Die Grünen-Bewegung ist nun
sieben Monate alt, und ich und meine Freunde haben die
Ereignisse sehr genau verfolgt und in Kontakt mit einigen
unserer Freunde im Iran gestanden. Nach (den Protesten an)
Ashura, dem 27. Dezember, sind wir zu der Einsicht gekommen,
dass ein echter Wendepunkt erreicht war. Zu diesem Zeitpunkt
hat das Regime entschieden, die Grünen-Bewegung zu
zerschlagen. In einem Fall hat das Regime einen
Demonstranten überrollt und getötet. Das war die sehr ernste
Botschaft an alle Demonstranten und Verteidiger und
Unterstützer der Grünen-Bewegung, dass das Regime die
Bewegung brutal zerschlagen will.
Abdolkarim Soroush: Auf der anderen Seite sind wir
persönlich immer wieder von Freunden gefragt worden: Was
fordert die Grünen-Bewegung wirklich, denn zu dieser
Bewegung ist es unvermittelt gekommen. Sie wurde nicht
geplant. Sie begann mit der Wahl und entwickelte sich immer
weiter. Und während sie sich entwickelte, tauchten
Forderungen auf, aber es gab keine Signale, was die Anführer
der Bewegung im Sinn hatten. Wir fünf stehen diesen
Anführern - Mir Hussein Mussawi, Mehdi Karrubi und Mohammed
Chatami - nah genug und kennen ihre Forderungen - also haben
wir beschlossen, ein Manifest oder eine Erklärung der
Grünen-Bewegung zu verfassen.
Die WELT: Wessen Ansichten spiegelt das Manifest
wider - allein die des Führungszirkels oder auch die der
breiteren Anhängerschaft?
Soroush: Es handelt sich um eine pluralistische
Bewegung, zu der Gläubige und Nichtgläubige, Sozialisten und
Liberale zählen. In der Grünen-Bewegung sind alle
Gesellschaftsschichten vertreten. Wir haben versucht, das
ihnen Gemeinsame festzuhalten. Wir wissen, dass es noch
viele weitere Forderungen gibt, viel mehr als diese.
Vielleicht werden sie in einem nächsten Schritt eine
Verfassungsänderung fordern. Für den Augenblick jedoch
möchten sie im Rahmen der Verfassung arbeiten, und wir haben
sorgfältig darauf geachtet, diese Grenzen nicht zu
überschreiten. Einer der Vorschläge, die wir gemacht haben,
ist in dieser Hinsicht grenzwertig, nämlich den Obersten
Richter zu wählen, statt ihn vom Revolutionsführer ernennen
zu lassen. Dieser Vorschlag stammt von mir - wenn es
Verfassungsänderungen gibt, müssen wir den Obersten Richter
in Zukunft wählen. Die meisten Punkte jedoch spiegeln wider,
was der Führungszirkel im Sinn hat.
Die WELT: Welchen Unterschied wird das Manifest
machen?
Soroush: Es wird die Ziele und Absichten
verdeutlichen, besser definieren und artikulieren. In diesem
Stadium brauchen wir das. Ich sage seit Jahren, dass die
Revolution theorielos war. Es war eine Revolution gegen den
Schah - keine positive, sondern eine negative Theorie. Ich
habe darauf bestanden, dass, so es zu einer neuen Bewegung
kommt, diese eine Theorie haben muss. Die Menschen sollten
wissen, was sie wollen, nicht nur, was sie nicht wollen.
Deshalb versuchen wir - in bescheidenem Umfang -, eine
Theorie für diese Bewegung auf den Weg zu bringen.
Die WELT: Wie geht es mit der Grünen-Bewegung
weiter?
Soroush: Niemand weiß das. Es gibt allerlei
Aufrufe, die Anführer der Grünen-Bewegung sollten sich dem
Obersten Führer beugen, aber das wird nicht geschehen. Beide
Seiten müssen auf echte Verhandlungen gefasst sein. Das
könnte die nächste Stufe sein. (Der ehemalige
Staatspräsident) Akbar Haschemi Rafsandschani könnte
einspringen, um mit Verhandlungen zur nationalen Versöhnung
zu beginnen.
Die WELT: Kann das Regime den Protest dauerhaft
zerschlagen?
Soroush: Das glaube ich nicht. Die Reformbewegung
ist ein Produkt der unterdrückten Meinungen. Ahmadinedschad
hat sein Bestes getan, alle Reformbewegungen zu unterdrücken
und eine neue Ära zu beginnen. Doch das Regime konnte den
Brand nicht löschen. Jetzt gibt es die Grünen-Bewegung, sie
ist die Kulmination der Reformbewegung, eine neue Stufe. Ich
hoffe, dass die Regierung einsieht, dass sie in
Verhandlungen mit der Grünen-Bewegung eintreten muss und
Opfer bringen, damit diese Verhandlungen produktiv sind. Der
Himmel schütze uns vor einem Ausbruch von Gewalt, die der
Grünen-Bewegung und dem Land schaden würde.
Die WELT: Würde ein Kompromiss die neue
Reformergeneration zufriedenstellen?
Soroush: Kompromiss ist negativ konnotiert. Aber
wird auch nur eine unserer Forderungen erfüllt -
Pressefreiheit zum Beispiel -, würde das reichen, um die
politische Lage und Atmosphäre im Land dramatisch zu
verändern. Wenn sie nur einer dieser zehn Forderungen
nachgäben - und dem Rest nicht -, würde das das ganze Land
revolutionieren. Vielleicht die Freilassung der Gefangenen;
so viele kompetente Menschen sind im Gefängnis. Ein jeder
von ihnen würde die Stimmung revolutionieren.